R.I.P. Vertrauensarbeitszeit?

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Ist die erwartete Zeiterfassungspflicht der Tod der flexiblen Arbeitszeit?

Update Mai 2023

Im April 2023 ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales nun tätig geworden und hat einen Referentenentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes präsentiert. Ziel der zukünftigen Gesetzesanpassungen ist die Schaffung von konkreten Regelungen bzgl. der Aufzeichnung der gesamten Arbeitszeit. Gemäß dem aktuellen Referentenentwurf wird der Arbeitgeber verpflichtet, den Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzuzeichnen.

Ferner wird geregelt, dass die Aufzeichnung durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst oder durch einen Dritten (zum Beispiel eine Vorgesetzte) erfolgen kann. Auch in diesem Fall bleibt der Arbeitgeber aber für die ordnungsgemäße Aufzeichnung verantwortlich. Die entsprechenden Änderungen sollen im maßgeblichen Sinne durch eine Novellierung des § 16 ArbZG erreicht werden. Zuwiderhandlungen gelten als Ordnungswidrigkeiten, welche mit einem Bußgeld von bis zu 30.000 Euro geahndet werden können.

Der Referentenentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes enthält gestaffelte Übergangsfristen für kleine, mittlere und große Unternehmen, aber lediglich in Bezug auf die Form der Aufzeichnung (händisch vs elektronisch), nicht in Bezug auf die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung als solche.

Für Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten gilt die elektronische Erfassung erst bis zu zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, für Arbeitgeber mit weniger als 50 Beschäftigten bis zu fünf Jahre nach Inkrafttreten;

In Kleinunternehmen mit maximal 10 Beschäftigten oder Unternehmen ohne Betriebsstätte im Inland und mit bis zu zehn entsandten Beschäftigten nach Deutschland muss die Arbeitszeit unbefristet nicht in elektronischer Form aufgezeichnet werden.

Wichtig: Bei dem Referentenentwurf handelt es sich lediglich um einen Gesetzesentwurf!

Ob und wann diese Änderungen tatsächlich in Kraft treten, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. So ist es durchaus möglich und auch nicht unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber noch Anpassungen an dem Entwurf vornimmt.

Update September 2022

Im September 2022 ist das Bundesarbeitsgericht (“BAG”) mit seinem Urteil dem Gesetzgeber zuvorgekommen und hat entschieden, dass ein Zeiterfassungssystem vom Arbeitgeber zu implementieren ist. Diese Entscheidung basiert auf einer europarechtskonformen Auslegung des bestehenden § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG.

Die Arbeitszeiterfassung ist somit für alle Beschäftigten, auf die das Arbeitszeitgesetz anwendbar ist, verpflichtend.

Laut BAG ist es nicht ausreichend, lediglich den Anfang und das Ende eines Arbeitstages zu erfassen und eine pauschale Pausenzeit abzuziehen. Selbst ein Dienst- oder Schichtplan ersetzt eine Zeiterfassung nicht. Vielmehr müssen die tatsächlich gearbeiteten Stunden erfasst werden. Somit muss ein Zeiterfassungssystem den Beginn, die Dauer und das Ende eines Arbeitstages erfassen, inklusive der Pausen und Überstunden. Die Zeiterfassung muss so erfolgen, dass sie bei einer möglichen Kontrolle durch die Behörden nachvollziehbar ist.

Detaillierte Vorgaben zu der Form, in der die Arbeitszeiterfassung zu erfolgen hat, machte das Bundesarbeitsgericht nicht.

Da das BAG die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aus dem Arbeitsschutzgesetz herleitet, bedeutet dies, dass eine Zuwiderhandlung nicht unmittelbar mit Bußgeld behaftet ist. Vielmehr wäre nur die Zuwiderhandlung gegen eine durch die entsprechende Behörde erlassene vorherige Anordnung durch Bußgeld sanktionabel.

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Ursprünglicher Beitrag:

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Bereits seit 2019 steht fest: die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung kommt. Der Europäische Gerichtshof (“EuGH”) entschied damals, dass alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind den rechtlichen Rahmen zu schaffen, damit Arbeitgeber Systeme zur Erfassung der Arbeitszeit einrichten. Entsprechende Gesetze lassen in Deutschland allerdings noch immer auf sich warten.  

Warum Arbeitszeiterfassung jetzt schon an Bedeutung gewinnt, wie ihr euch auf eine kommende Pflicht vorbereiten könnt und was es für Vertrauensarbeitszeit bedeutet, erklären wir hier.  

Die aktuelle Rechtslage 

Mit dem Urteil des EuGH wurde noch lange keine Zeiterfassungspflicht eingeführt, denn dieses stellt lediglich eine Handlungsvorgabe für EU Mitgliedsstaaten dar, entsprechende Gesetze zu erlassen. Bisher hat sich allerdings nicht viel getan. Jedoch sind Arbeitgeber gut beraten, sich bereits jetzt an die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung zu gewöhnen. Wenn andere Gerichte dem Kurs des Arbeitsgerichts Emden folgen und ebenfalls eine Pflicht für Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung sehen, sollten Arbeitgeber nicht auf die nationale Gesetzesänderung warten.

In gleich zwei Urteilen bestätigte das Arbeitsgericht Emden nämlich in Anlehnung an das EuGH-Urteil die unmittelbare Pflicht der Arbeitgeber ein System zur Zeiterfassung der Arbeitszeiten einzuführen. Im ersten Fall klagte ein Bauhelfer die Vergütung von Überstunden erfolgreich ein, die er mit Hilfe einer selbstgeführten Übersicht nachweisen konnte. In dem zweiten (noch nicht rechtskräftigen) Urteil sprach das Gericht einer Arbeitnehmerin sogar EUR 20.000,00 für geleistete Überstunden zu, die sie in dem vom Arbeitgeber bereitgestellten Zeiterfassungssystem dokumentierte. Der Arbeitgeber konnte sich nicht erfolgreich darauf berufen, die erfassten Zeiten nicht kontrolliert zu haben, weil im Betrieb Vertrauensarbeitszeit gelte. 

Somit bleibt es spannend! Denn der Trend geht klar in Richtung verpflichtende Arbeitszeiterfassung, wie auch der Referentenentwurf eines Gesetzes zur mobilen Arbeit beweist.

Doch was heißt das nun für Vertrauensarbeitszeit?

Wenn nun bald die Zeiterfassungspflicht droht, stellen sich viele bestimmt die Frage: “Muss ich jetzt auf Vertrauensarbeitszeit in meinem Unternehmen verzichten?”  

Bei der sogenannten Vertrauensarbeitszeit wird auf eine klassische Arbeitszeiterfassung verzichtet und Arbeitnehmer regeln eigenständig, wann mit der Arbeit begonnen oder aufgehört werden soll. Hierbei geben Arbeitgeber oft einen zeitlichen Rahmen vor und definieren die nötige Erreichbarkeit. Vor allem zu Zeiten der Corona-Krise, in denen viele Arbeitnehmer im Home Office tätig sind, werden flexible Arbeitszeitmodelle, wie Vertrauensarbeitszeit oder mobiles Arbeiten immer beliebter, da sie den Mitarbeitern erlauben ihren Arbeitstag individuell zu gestalten. Dies kommt meist besonders Mitarbeitern mit Kindern oder Mitbewohnern zu gute. 

Bedeutet die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung denn dann den Tod der flexiblen Arbeitszeitmodelle, insbesondere der Vertrauensarbeitszeit?

Nicht zwingend. 

Denn zunächst hieße eine entsprechende Regelung nur, dass Arbeitgeber zur Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten verpflichtet sind. Dies mag für viele Unternehmen eine grundlegende Umstellung bedeuten. Dabei besteht in Deutschland, zumindest für Überstunden, bereits vor dem EuGH-Urteil eine Aufzeichnungspflicht (§ 16 Abs. 2 ArbZG). 

Zudem bringt die Vertrauensarbeitszeit leider nicht nur Vorteile mit sich.

Das eigentliche Ziel der Vertrauensarbeitszeit ist es nämlich, den Fokus auf das Erreichen von festgelegten Zielen zu legen, statt durch ständige Kontrolle der Arbeitszeiten Druck zu erzeugen. In der Theorie klingt das für Mitarbeiter natürlich attraktiv, weil ihnen so ein großzügiges Maß an Freiheit überlassen wird, während dem Arbeitgeber der Aufwand erspart bleibt.

Leider sieht das in der Praxis oft anders aus. Der Fokus auf die Arbeitsziele erhöht die Verantwortung der Arbeitnehmer, eigenständig und termingerecht Ergebnisse zu liefern. So kommt es erwiesenermaßen zu mehr Überstunden, die dann meist nicht vom Arbeitgeber erfasst werden. Zudem führt die Vertrauensarbeitszeit oft dazu, dass Arbeitgeber ihre arbeitsschutzrechtlichen Pflichten vernachlässigen, was nicht nur rechtswidrig ist, sondern auch schwere Folgen für die Gesundheit der Arbeitnehmer haben kann. 

Dem könnte eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung dadurch entgegenwirken, dass tatsächlich geleistete Arbeitsstunden aufgezeichnet und somit transparenter gemacht würden. So kann zum Beispiel sichergestellt werden, dass Ruhezeiten eingehalten werden - es würden weniger Überstunden anfallen und effizienter die vereinbarten Ziele erreicht werden. Sollten trotzdem Überstunden anfallen, werden diese entsprechend dokumentiert und können fair vergütet oder mit Freizeit ausgeglichen werden. Zusätzlich ist der Arbeitgeber dadurch vor möglichen Klagen und teuren Strafen schützen kann. 

Gleichzeitig heißt dies nicht, dass die Arbeitszeit nicht flexibel gestaltet werden kann. Denn ein kommendes Gesetz sähe höchstwahrscheinlich lediglich eine Kontrolle vor.
Viel eher bietet das Urteil deswegen die Chance Vertrauensarbeitszeit mit mehr Sicherheit für Arbeitnehmer und Arbeitgeber fortzuführen. 

Wie bereite ich mich vor?

Obwohl entsprechende Gesetze noch auf sich warten lassen, ist wie bereits gezeigt, eine Vorbereitung jetzt schon ratsam, wenn man rechtliche Folgen verhindern möchte.

So gehst du auf Nummer sicher:

1. Klare vertragliche Regelungen und interne Richtlinien

Generell empfiehlt es sich, die Arbeitsverträge dahingehend zu prüfen, ob wirksame Klauseln zu Arbeitszeiten und Überstunden formuliert sind.

Falls erforderlich, sollten die Verträge mit einer Änderungsvereinbarung angepasst werden. So beinhalten viele Arbeitsverträge zum Beispiel keine oder unzulässige Klauseln zur Abgeltung von Überstunden, denn eine pauschale Abgeltung aller Überstunden mit dem vereinbarten Gehalt ist unwirksam. Ohne klare Definition drohen Streitigkeiten oder gar teure Gerichtsprozesse. Gerade bei Vertrauensarbeitszeit entstehen nicht unerhebliche Beweisprobleme:  

Waren Überstunden angeordnet? 

Wurden die Zeiten vom Arbeitnehmer dokumentiert und vom Arbeitgeber geduldet? Reicht nach dem Urteil des Arbeitsgerichts Emden sogar bloß die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung? 

Auch Vertrauensarbeitszeit lässt sich vertraglich festhalten, z.B. durch formulierte Vorbehalte, die dem Arbeitgeber gestatten, bestimmte Termine vorzugeben. 

In gesonderten Vereinbarungen, wie interne Richtlinien, können Einzelheiten zur konkreten Ausgestaltung von verschiedenen Arbeitszeitmodellen (z.B. Rufbereitschaft, Schichtsystemen, Gleitzeitmodelle) und die Art der Dokumentation definiert, mit den Mitarbeitern geteilt und von Zeit zu Zeit angepasst werden.

2. Zeiterfassungstool

Sind Rahmenbedingungen zu (Vertrauens-) Arbeitszeit und Überstunden gesteckt, spricht nichts gegen eine Erfassung von Arbeitszeiten. Laut EuGH muss das System objektiv, verlässlich und zugänglich sein, was bedeutet, dass es für Arbeitnehmer und Arbeitgeber transparent sein sollte und alle Arbeitszeiten inklusive Pausen sowie Überstunden aufgezeichnet werden. 

Dabei ist ein digitales System sicherlich zeitgemäßer und effizienter als ein analoges. Die meisten HR Management Tools bieten entsprechende Funktionen. Ein positiver Effekt, der eventuell nicht gleich sichtbar ist: knüpft man bei erfassten Arbeitszeiten (inklusive Überstunden) an die vereinbarten Arbeitsziele an, können in einem zentralen System Feedbackrunden, Prioritäten und Leistungsbeurteilungen etabliert, nachgehalten und gemeinsam optimiert werden. 

3. Bewusstsein schärfen & transparent kommunizieren

Bei der Gelegenheit sollten Arbeitgeber nicht nur ein internes System etablieren, sondern das Thema Arbeitszeit im Allgemeinen auffrischen, die Führungskräfte sensibilisieren und regelmäßig schulen. Werden rechtliche Vorgaben und interne Vereinbarungen beachtet, führt das zu mehr Sicherheit und Zufriedenheit. Durch ernsthaftes Einhalten der Arbeitgeberpflichten werden nämlich nicht nur Risiken minimiert, sondern auch die Gesundheit der Mitarbeiter in den Fokus gestellt.

Burnouts, häufige Krankheiten, Corona-bedingte und herausfordernde Arbeit im Home Office, ausgebliebene Pausen und fehlende Balance schaden langfristig dem Unternehmen, da die Mitarbeiter unausgeglichen sind. Schlimmer noch: sie fühlen sich unter Umständen sogar ausgenutzt, wenn das Unternehmen den Arbeitsschutz vernachlässigt, Überstunden nicht vergütet und das Ableisten als selbstverständlich angesehen wird. Eine transparente Kommunikation und Schärfung des Bewusstseins zum Thema Arbeitszeit, das Einholen von Feedback und Verbesserungsvorschlägen aus dem Team und eine konkrete Umsetzung der “erfassten Vertrauensarbeitszeit” sorgen für eine gesunde Unternehmenskultur. Mitarbeiter sollten sich involviert fühlen und sehen, dass ihr Arbeitgeber das Thema ernst nimmt und damit ihre Arbeit wertschätzt - das schafft Vertrauen und stärkt das Unternehmen perspektivisch. 

Ein win-win.